
Ein vorösterlicher Ruf
Es ist die große Stärke und die große Wahrhaftigkeit des Christusglaubens, dass er sich dem sinnlosen Tod stellt. Von Anfang an sind Christus-Gläubige dem Schrecken des Todes nicht ausgewichen, sie haben den Schrecken des Sterbens Jesu nicht geleugnet und nicht verdrängt. Das Folterinstrument von Golgatha ist mit Grund zum zentralen Symbol des Christentums geworden.
Im Mittelpunkt meines Glaubens steht das Wort vom Kreuz: Die Gottverlassenheit Jesu ist nicht das Ende, sondern der Anfang meines Glaubens.
Kein Christus-Mensch kann sich darüber hinwegtäuschen: Dass auch das Schlimmste, Bitterste, Sinnloseste möglich ist – diese furchtbare Erkenntnis ist der Tief- und Ausgangspunkt des Lebens im Zeichen des Kreuzes. Der christliche Glaube flüchtet sich nicht in Vertröstungen.
So verkünden wir nicht die Rückkehr der Toten in einem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt. Wir werten das irdische Leben nicht zugunsten eines jenseitigen Lebens ab. Wir predigen auch nicht die geistige Existenz, die der irdischen Existenz überlegen ist.
Nein, der Christusglaube nimmt das irdische Leben ganz und gar ernst. Deshalb hat Jesus die Kranken gesund gemacht und die Besessenen geheilt. Deshalb wendete sich Jesus den Ausgegrenzten zu und verkündete das Reich Gottes als eine neue Welt, die hier auf Erden dem göttlichen Willen Geltung verschafft.
Gott liebt diese Welt, deshalb sendet er seinen Sohn – so sagt es das Johannesevangelium (Johannes 3,16).
Für das Leid in der Welt liefert der christliche Glaube keine Ermäßigung. Alles Leid, das geschieht, ist so schlimm wie es scheint. Der christliche Glaube lehrt eine maximale Empathie für die Welt und allen Kummer in ihr. Eine umfassende Erinnerungskultur gehört deshalb zum Christentum. Mit Liedern und Musik, mit Bildern und Lesungen gedenken Christus-Gläubige in der Passionszeit nach Aschermittwoch des Leidens Jesu. Sie protestieren damit zugleich gegen Leid und Tod, die angerichtet und verursacht werden. Sie bleiben an der Seite derer, die in ihrem namenlosen Leid verzweifeln wollen.
In der Erinnerung an Jesu Sterben wird das Sterben all jener aufbewahrt, die schmerzlich vermisst werden oder namenlos verenden: alle Opfer von Gewalt, Willkür und Gleichgültigkeit, alle Opfer von Katastrophen und Terrorakten, alle Opfer eines zu frühen Todes.
Gott liebt sich an seiner Welt zu Tode - bis zum Ersticken am Kreuz liebt Gott seine Schöpfung. Darüber wird es Nacht werden. Der Stein wird das Grab verschließen.
Der Same ist gesät. – Warte nur ab – es kommt der Morgen, an dem im Licht der aufgehenden Sonne offenbar werden wird: Liebe wächst wie Weizen und ihr Halm ist grün. (Evangelisches Gesangbuch, Lied 98)
Pastor Renald Morié,
Klinikseelsorger im HGZ Bad Bevensen