Die Steine werden schreien


Wort zum Sonntag, 05.11.2023 (22. So. n. Trinitatis)

von Pastor Renald Morié, Ev.-luth. Kirchengemeinde Wichmannsburg
Renald Morié (Foto: privat)

Berlin. 22. Oktober 2023. - An diesem Tag mussten sie einmal nicht schreien, weil Menschen schwiegen. Die 2711 quaderförmige Stelen hörten. Tausende Menschen hatten sich vor dem Brandenburger Tor versammelt, um gegen Antisemitismus und für die Solidarität mit Israel Gesicht zu zeigen und ihre Stimme zu erheben.

Bundespräsident Steinmeier sprach. Die Stelen hörten seine Worte: „Angesichts antisemitischer Ausschreitungen der vergangenen Tage ist es unerträglich, dass Jüdinnen und Juden heute wieder Angst haben - ausgerechnet in diesem Land“. - Ausgerechnet in diesem Land.

Dafür waren die Stelen im Jahr 2005 aufgestellt worden, um zu klagen, zu mahnen und zu erinnern; steingewordene Erinnerung an das teilnahmslose Schweigen der Deutschen, in dem die Angst- und Todesschreie der Millionen europäischer Juden ungehört verhallten.

Wenn die Menschen schweigen, werden die Steine schreien. Ein geflügeltes Wort. Aus der Bibel. Aus der jüdisch-christlichen Tradition. 
„Es schreit der Stein aus der Mauer und der Sparren gibt ihm Antwort aus dem Gebälk.“ - Der Prophet Habakuk klagt im Namen Gottes Bosheit, Hass und Unterdrückung an. Er nimmt im Namen seines Gottes Partei. Kompromisslos, eindeutig und unbedingt: Der Friede Gottes ist dort nicht, wo Unrecht geschieht – Unrecht gegenüber den Mitmenschen. Der Frieden kann dort nicht wohnen, wo er bei Menschen keine Heimat findet. Der Friede Gottes kann nicht bei Menschen sein, die im Namen von Heimat, Nation und Religion die Menschenwürde anderer Menschen zu Tode brüllen wollen. - Und: Auch dort kann der Frieden Gottes nicht wohnen, wo Menschen schweigen.

Der Frieden Gottes kann nicht bei Menschen sein, die stumm bleiben, wenn Menschen Angst um Leib und Leben haben; wenn jüdische Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule gehen lassen wollen; wenn jüdische Kinder sich nicht mehr trauen, auf Spielplätzen hebräisch zu sprechen. Der Frieden Gottes kann dort nicht wohnen – auch nicht in unseren Kirchen. Es sei denn, wir ergreifen das Wort und stehen auf zur Tat.

„Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“, sagte der Theologe Dietrich Bonhoeffer im Jahr 1938: dem Jahr der Reichspogromnacht. Vor 85 Jahren. Als in unserem Land die SA die Synagogen in Brand setzten, unsere Vorfahren applaudierten, schlugen, mordeten und in der Folge mehrheitlich zu allem schwiegen. - Darum müssen die Stelen im Herzen unserer Hauptstadt immer noch schreien.

„Der Schutz jüdischen Lebens ist Staatsaufgabe, aber er ist auch Bürgerpflicht“, sagte der Bundespräsident in Berlin. Schreien wir als Kirchen für die Juden. Es ist Christenpflicht. Unbedingt.

Pastor Renald Morié,
Ev.-luth. Kirchengemeinde Wichmannsburg