ÜberLeben


Wort zum Sonntag, 12.11.2023 (Drittletzter So. im Kirchenjahr)

von Pastorin Anne Stucke, Ev.-luth. Kirchengemeinde Ebstorf
Anne Stucke (Foto: privat)

Vor einer Woche feierte Margot Friedländer ihren 102. Geburtstag. Als sie am 5. November 1921 in Berlin geboren wurde, war Adolf Hitler seit einigen Monaten Vorsitzender der NSDAP. Außer ihr hat niemand aus ihrer Familie den Holocaust überlebt. Ihre Eltern und ihr Bruder wurden in Auschwitz ermordet. Sie selbst überlebte im KZ Theresienstadt. Nach dem Krieg ging sie mit ihrem Mann Adolf Friedländer, auch er ein Überlebender, nach New York. Er wollte nie wieder nach Deutschland zurück. Als er 1997 starb, war sie 76 Jahre alt – und ein anderes Leben begann für sie.

Margot Friedländer schrieb ihre Erinnerungen auf, wurde Bestsellerautorin, spricht als Zeitzeugin vor Schulklassen. Und kehrte nach Deutschland zurück. Seit 2010 lebt sie wieder in ihrer Geburtsstadt Berlin, in einer Seniorenresidenz unweit des Kurfürstendamms.

Auf die aktuelle Lage angesprochen sagt sie: „Es ist fürchterlich, ganz fürchterlich. Wir sind doch Menschen. Man muss im anderen doch den Menschen sehen. Man fragt mich oft, ob ich hasse. Aber Hass ist eine schreckliche Sache. Ich würde nie hassen wollen. Es bringt nichts. Ich habe nie gehasst, auch früher nicht. Es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut, nur menschliches. Das ist es, was ich zu sagen habe.“

Danach befragt, ob sich wiederholen könne, was sie erlebt hat, sagt sie: „Man muss vorsichtig sein. Man darf nicht denken, dass das, was damals geschah, einmalig ist.“ Es brauche nur Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit, Wegsehen und „ein kleines bisschen Anzünder“, um Menschen aufzuwiegeln. Und sie sind in der Lage, Dinge zu tun, die sie noch gestern weit von sich gewiesen hätten.

Mit ihren über hundert Jahren unterstützt Margot Friedländer die Organisation „Zweitzeugen“, eine Art Übergabe an Nachgeborene, die stellvertretend die Erinnerung an die Shoah wachhalten sollen.

Glaubt sie daran, dass der Mensch lernen kann? - Ihre Antwort: „Nein. Leider nicht. Ich habe das gehofft, aber ich glaube es nicht.“

Und warum macht sie das dann alles? Engagiert sich, geht im hohen Alter in Schulen, redet vor Klassen, im Fernsehen, vor Politikern? - Sie schweigt lange und sagt dann: „Man muss es doch wenigstens versuchen.“

Ja, das müssen wir. Es wenigstens versuchen.

Pastorin Anne Stucke
Ev.-luth. Kirchengemeinde Ebstorf