
Gefühlt wächst der Druck auf uns, immer das Richtige zu tun. Alles andere hätte sonst fatale Folgen für unser Ansehen, die Gesundheit, das Schicksal Deutschlands oder des Lebens auf der Erde. Dabei möchten viele ganz ehrlich möglichst alles richtig entscheiden, denn es geht ja um etwas Gutes. Das ist schon deshalb nicht einfach, weil menschliches Wissen und unsere eigene Kraft Grenzen haben. Außerdem gibt es dauernd gegensätzliche Anweisungen: Soll ich nun zweimal die Woche Seefisch essen, um lange gesund und fit zu bleiben oder am besten gar nicht, weil die Meere überfischt sind?
Manche machen es sich dagegen leicht. Sie nehmen ausschließlich sich selbst als Maßstab. Nur, wer dasselbe denkt, sagt und tut wie sie, ist auf dem rechten Weg. So lässt sich nicht nur Wahlkampf machen. Solche Personen werden vor sich selbst komplett fehlerlos. Das ist die beste Voraussetzung, um sich dann unbarmherzig auf alle anderen zu stürzen, die für falsch oder dumm oder gefährlich gehalten werden. Solche Menschen verwechseln sich mit Gott und sind gleichzeitig weit entfernt davon, wie Gott wirklich erschienen ist.
„Möge meine Barmherzigkeit stets größer sein als meine Gerechtigkeit!“ – so hat einmal jemand geschrieben als Antwort auf die Frage: Worum würde Gott bitten, wenn er beten würde?
Unzählige Male ist dieser Gedanke in der Bibel in Worten oder Geschichten zu finden. Auch Gott fordert von den Menschen, die zu ihm gehören wollen, dass sie nach seiner Gerechtigkeit leben. Das zieht sich durch von den Zehn Geboten bis zum Handeln, das Jesus vorgelebt hat. Dabei gibt Gott die Landkarte seiner Weisungen in unsere Hand, aber er lässt uns den Weg selbst finden mit sprichwörtlicher Geduld für alle Um- und Irrwege. Dabei „vertrauen wir nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf Gottes große Barmherzigkeit.“ (Daniel 9,18) Solches Vertrauen hilft genauso gegen ängstliche Skrupel wie gegen besserwissende Verbissenheit.
So wie Hildegard von Bingen den Mädchen, die zu ihr ins Kloster geschickt wurden, folgende Aufmunterung gab: „Geliebte Kinder, traut euch! Packt zu! Ich verspreche euch: Wegen Gottes großer Güte dürft ihr dabei tausend Fehler täglich machen. Allein aus Rücksicht auf meine eigene Schwäche bitte ich euch: Macht nicht jeden Tag denselben!“
Pastorin Friederike Holtz,
Ev.-luth. Kirchengemeinde Wriedel