Als Kind fiel mein Blick in der Kirche immer auf eine braune Holztafel. Sie war unübersehbar an der Seitenwand angebracht. Auf der Tafel standen die Namen der gefallenen Soldaten. Namen von jungen Männern aus der Gemeinde.
Meine Oma kannte sie fast alle: „Mit Heinrich bin ich zur Schule gegangen! Friedrich wurde eigentlich nur Fritz genannt. Und Wilhelm war der Sohn von unserem Nachbarn!“
Bronislaus, Katarzyna, Josef,… ihre Namen übersieht man leicht. Es sind die Namen auf den Grabsteinen auf dem Uelzener Friedhof. Es sind vier von den 188 Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, die im 2. Weltkrieg hierher verschleppt wurden und auf dem Ausländergräberfeld direkt an der Ripdorfer Straße begraben wurden. 82 dieser Kriegsopfer sind namenlos vergraben oder verscharrt worden. Alles hat man ihnen genommen: Heimat, Leben und auch den Namen. Sie wurden zu Nummern und Zahlen.
An diesem Sonntag, dem Volkstrauertag oder Friedenssonntag, erinnern wir der Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft und hören die unvorstellbaren Zahlen. Insgesamt wurden im Zweiten Weltkrieg mehr als 70 Millionen Menschen getötet. Die meisten Todesopfer hatten die Sowjetunion, China und Deutschland zu beklagen.
Heute hören wir in den Nachrichten wieder Zahlen von Menschen, die im Ukraine-Krieg getötet wurden. Man geht schätzungsweise von fast 250.000 gefallenen russischen und von rund 45.000 gefallenen ukrainischen Soldaten aus. Ungefähr 15.000 Zivilisten in der Ukraine ließen in diesem Krieg ihr Leben. Und jeder trägt einen Namen und eine Geschichte.
Namen geben den Opfern ein Gesicht und eine unverwechselbare Lebensgeschichte, die von Kindheit, von Familienfesten und von der ersten Liebe erzählen. Es sind Geschichten, die sich von denen ihrer Feinde kaum unterscheiden. Sie erzählen auch davon, wie junge Menschen von Diktatoren verführt und sinnlos in den Krieg geschickt wurden, und sie enden mit Verschleppung, Verwundung und Tod. Geschichten, die sich heute noch fortsetzen!
Namen geben meinem Feind und Gegner, geben dem Andersdenkenden und Fremden ein Gesicht, in das ich schauen kann, mit dem ich sprechen und streiten kann. Namen geben ihnen eine Hand, die ich ergreifen kann, und ein Herz, das die Sehnsucht nach Frieden auch in sich trägt. Im Feind den Nächsten erkennen, das ist das Friedenskonzept, mit dem Jesus von Nazareth ernst machte. Er ist einer von unzähligen Menschen, die damals verschleppt, gefoltert und gekreuzigt wurden. Er ist einer von unzähligen Opfern, dessen Name wir erinnern und heute für Versöhnung und Frieden steht und der in seinen Feinden Bruder und Schwester sah.
Iris Junge,
Pastorin in St. Marien Uelzen